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Es ist nicht leicht ein Kind zu sein, nein! Es ist schwer - sehr schwer sogar. Was bedeutet es eigentlich, Kind zu sein? Es bedeutet, dass man zu Bett gehen, aufstehen, sich anziehen, essen, Zähne und die Nase putzen muss, wenn es den Großen passt und nicht einem selbst…

Astrid Lindgren

Wie konnte aus dem kleinen Querkopf der Familie Svensson noch etwas Ordentliches werden?

Mein Sohn, fünf Jahre alt, sagte mir eines Tages beim Abendbrot, über seinen verehrten Freund, Michel aus Lönneberga: „Der Michel hat nicht nur Quatsch gemacht, sondern auch gute Sachen“. Er identifizierte sich mit dieser Figur. Was meinte er damit? Es schien, als konnte er Michel sehr gut verstehen und nachfühlen, wie es ihm ergangen war. So als wollte er sagen: „Ich mache auch hin und wieder Quatsch, aber ich mache mit meinen fünf Jahren auch viele gute Sachen“. Ich wollte dem nachgehen und kaufte mir die Gesamtausgabe.

Zur Erinnerung: Michel ist fünf Jahre alt. Er sieht aus wie ein Engel, mit blauen Augen, blond mit lockigen Haaren. Er ist aber kein Engel. Er ist ein kleiner, eigensinniger Junge. Er liebt seine Mütze, die ziemlich hässlich ist. Sein Vater hat ihm diese „nur mal so“ aus der Stadt mitgebracht, obwohl er sonst sehr darum bemüht ist, das Geld zusammen zu halten. Michel möchte mit dieser „Müsse“ schlafen gehen. Seine Mutter findet, dass man nicht mit einer Mütze im Bett schlafen sollte. Den Wutanfall, den er vom Zaun bricht, als er seine Mütze nicht bekommt, ist über das ganze Dorf zu hören. Wie aber lässt die bekannteste Kinderbuchautorin der Welt die Situation sich lösen?

„Und Michel schlief jede Nacht mit der Mütze auf dem Kopf - drei Wochen lang. Das ging schließlich, wenn es auch ein bisschen drückte. Die Hauptsache war, dass er seinen Willen bekam, damit nahm er es genau. Und vor allem durfte es nicht so sein, wie seine Mama es wollte.“ An einer anderen Stelle schreibt sie: „So eigensinnig war Michel. Er wollte über Mama und Papa bestimmen. Über ganz Katthult und am liebsten über ganz Lönneberga, aber da machten die Leute aus Lönneberga nicht mit.“ Das dürfte dem ein oder anderen als Erfahrung mit seinen Kindern bekannt vorkommen.

Ist Michel also wirklich ein besonders schlimmer Junge?

Es gibt noch weitere, allgemein bekannte Konfliktfelder, die in den Geschichten auftauchen: Da wird das Essen genannt: Michel will keine Schnittbohnen essen, obwohl seine Mutter meint, dass diese so gesund sind und er dann aus Trotz die Nadeln vom Weihnachtsbaum knabbert. Oder als Michel Suppe vom Teller schlürft und dann den Kopf in die Suppenschüssel steckt, um den Rest auch noch zu bekommen. Auch wird berichtet, dass er über eine Situation am Tisch plötzlich lachen und mit vollen Milchbacken losprusten muss, so dass der Sonntagsrock seines Vaters besudelt wird. Ein anderes Mal geht es um Schimpfwörter, die er mit Hingabe seiner kleinen Schwester beibringt.

Ich möchte hier den Versuch wagen, Michel als ganz normales Kind zu betrachten. Zugegeben, Michel ist schon ein Kind, das die Erziehungsberechtigten an ihre Grenzen bringt. Aber welches Kind bringt seine Eltern nicht hin und wieder zur Weißglut und zeigt ihnen ihre Grenzen auf?

Michel wird auf einem ganz normalen Hof in Schweden groß, wie es damals viele gibt. Die Eltern sind angesehene Leute, sie setzen ihrem Jungen immer wieder deutliche Grenzen und sind konsequent: Dass Michel im Tischlerschuppen sitzt und beim Schnitzen von Holzmännchen über seine Taten nachdenken muss, ist schon legendär… und trotzdem macht er Quatsch, ist er nicht unterzukriegen, lässt er sich nicht einpassen in die Welt der Erwachsenen - zumindest braucht der Prozess der kulturellen Anpassung seine Zeit.

Wie kommt es aber immer wieder zur Eskalation von Konflikten zwischen Erwachsenen und Kindern? Ich meine, häufig fehlt uns Erwachsenen das Verständnis, die Sicht der Kinder wahrzunehmen und ihr Verhalten nachzuvollziehen - was nicht gleichbedeutend damit ist, alles gut zu heißen, was sie machen.

MichelausLoenneberga_BenediktHommel

Ein Versuch, Michels Wahrnehmung der Welt zu verstehen

Michel ist sich oft keiner Schuld bewusst, etwas falsch gemacht zu haben, da er mit sich selbst in Einklang ist und aus diesem Gefühl heraus handelt. Besonders schön wird das beschrieben, als Michel seinen Vater auf dem Jahrmarkt in Vimmerby immer wieder verliert. Als er im Schuppen später darüber nachdenken soll, dass er weggelaufen sei, grollt er über den Vater, der aus seiner Sicht immer wieder von ihm weggelaufen ist und nicht umgekehrt. Im Grunde ist Michel kooperativ: so zum Beispiel, wenn ihn seine Mutter auffordert, die gegorenen Kirschen auf den Kompost zu bringen. Er sagt das sofort zu, bleibt dann aber bei seinem Schweinchen hängen und lässt dieses die Kirschen probieren, die sonst immer verfüttert werden.

Auch heute gibt es immer wieder Missverständnisse darüber, warum Kinder scheinbar nicht sofort hören wollen: Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat in diesem Zusammenhang immer wieder betont, dass Kinder in den Konflikten mit Erwachsenen nicht die Entscheidung sabotieren oder die Autorität der Erwachsenen unterminieren wollen. Vielmehr bringen diese Konflikte wichtige innere Prozesse beim Kind in Gang, die die eigenen Bedürfnisse mit den Grenzen der Umwelt in Einklang bringen können. Das wird beschrieben, wenn Michel im Verlauf der Geschichten beginnt sich Gedanken zu machen, ob es denn jetzt Unfug sei, was er vorhat zu tun. Er hält jedoch an seiner inneren Stimme, seiner Intuition fest.

Michel erhält also schon damals, gegen allen Zeitgeist, die Chance, ein starkes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Er wird nicht gezwungen „richtig herum zu kooperieren“. So nennt es Jesper Juul, (Vom Gehorsam zur Verantwortung, Beltz), wenn Kinder sich selbst aufgeben, um sich an die Bedürfnisse der Erwachsenen anzupassen. Die Alternative nach Juul, die Kinder - natürlich unbewusst - einschlagen, wenn sie in ihrem Selbstwertgefühl verletzt werden, die der Nicht-Kooperation, kommt für Michel auch nicht in Frage. Er opponiert nicht gegen die Erwachsenen. Seine Streiche entstehen eher aus seiner eigenen Sicht der Dinge, als dass sie gegen jemanden gerichtet wären.

Es wird immer wieder aufgezeigt, dass er kooperieren und helfen möchte. Auch, wenn er seiner Schwester den Wunsch ermöglicht, über die Hügel bis in die Stadt zu schauen und sie am Fahnenmast hochzieht. Oder wenn er nachts die Mausefalle aufstellt, um die Maus zu fangen, vor der die Magd Lina so große Angst hat. Seine Entscheidung, diese nach reiflicher Überlegung an jene Stelle zu stellen, an der Michels Vater seine Füße unter den Tisch ausstreckt, fällt er, weil die Maus dort die meisten Krümel findet - und nicht um seinem Vater einen Streich zu spielen.

Michels Mama erkennt Michels tiefe innere Struktur

Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist - Geborgenheit und Freiheit. Wir fühlten uns geborgen bei diesen Eltern, die stets Zeit für uns hatten, wenn wir sie brauchten, uns im Übrigen aber frei und unbeschwert (…) herumtollen ließen.

Astrid Lindgren

Besonders von Michels Mutter lässt sich einiges auch für die heutige Zeit abschauen: Bei allen Konflikten, aller Trauer und Not, die sie immer wieder empfindet, und die sie auch zweifeln lässt, ob es ein gutes Ende nehmen wird, lässt sie „nichts auf ihren Sohn kommen“, steht sie bedingungslos zu ihm und verteidigt ihn gegen Anfeindungen – auch als die Dorfgemeinschaft Geld sammelt, um Michel nach Amerika zu schicken. Michels Mama glaubt an Michel und fokussiert immer wieder seine positiven Seiten. Sie wehrt sich dagegen, ihm ein negatives Label aufzudrücken, ihn runterzumachen, ihn zu demütigen oder den Kontakt mit ihm abzubrechen. Michel bekommt äußere Freiheit und inneren Raum besonders von seiner Mutter geschenkt. Damit kann er sich und seine Umwelt entdecken und darf auch Fehler machen. Sie nimmt ihn mit seinen Bedürfnissen nach Partizipation und eigenen Erfahrungen ernst. So darf er zum Beispiel mit den Erwachsenen zum Jahrmarkt fahren, obwohl sein Vater und Lina dagegen sind ihn mitzunehmen.

Michels Mama erkennt Michels tiefe innere Struktur. Sie weiß, dass er nichts Schlechtes im Schilde führt. Sie erkennt sein Bemühen, gut sein zu wollen, zum Beispiel als er die alten Menschen aus dem Armenhaus nach Katthult einlädt, um diesen ein sattes Weihnachten zu schenken. Die Mutter hatte ihn ja zuvor ins Armenhaus geschickt, um den Armen ein Essenspaket mit Weihnachtsleckereien zu bringen. Dass dieses dann von der dortigen Aufseherin alleine verspeist wird, ist die Ursache für seine Idee. Genau genommen will er es der Mutter nachmachen und kooperieren. Wie könnte man ihm da Böse sein? Trotzdem macht die Mutter Michel sanft klar, dass er über das Ziel hinausgeschossen ist.

Dazu schreibt Lienhard Valentin in seinem Buch Mit Kindern neue Wege gehen: „Das „grundlegende Gutsein“ eines jeden Menschen ist ein wesentlicher Aspekt…, und es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir uns im Umgang mit Kindern auf dieses grundlegende Gutsein beziehen und nach Möglichkeiten suchen, dass es zum Vorschein kommen und sich entfalten kann. Das heißt nicht, dass wir ungeeignetes oder auf andere Weise auffälliges Verhalten eines Kindes einfach ignorieren sollten, natürlich müssen wir damit umgehen und versuchen, eine angemessene Antwort zu finden“.

Michels Papa hatte wahrlich auch Angst um seinen Jungen

Wenden wir uns nun Michels Vater zu: Er scheint oft überfahren zu werden von der Energie und dem Tatendrang, der schnellen Entscheidungsfreude seines Sohnes. Sein Terrain ist es, rationale Entscheidungen zu fällen, über die er vorher in Ruhe nachdenken kann. Michel dagegen mag nicht ruhig sitzen, sondern ist quirlig unterwegs. Er stellt seinen Vater immer wieder vor vollendete Tatsachen, geht für diesen nicht nachvollziehbare Wege - und ist damit auch noch sehr erfolgreich, ja manchmal erfolgreicher als der Vater. Das muss man als Vater erst einmal verkraften und sich dann nicht in den Hintergrund gedrängt fühlen, sondern es seinem Sohn von Herzen gönnen, so erfolgreich zu sein. Trotzdem ist er häufig am Ende seiner inneren Kräfte, wenn es heißt, nachdem die Suppenschüssel ein zweites Mal zu Bruch gegangen ist: „Kein Wort sagte Michels Papa. Er drehte sich um und ging zurück in den Schafstall“. Was dann aber passiert, zeigt, dass die Beziehung von den beiden nicht abgebrochen ist: „Aber zwei Tage später bekam er fünf Öre von Michel, das war wenigstens ein Trost.“ Das gleiche zeigt die „Müsse“ über die Beziehung der beiden, die Michel immer auf dem Kopf behält. Sein Vater hat sie ihm, trotz Geldknappheit, zum Geschenk gemacht, und gezeigt, wie wichtig Michel ihm ist. Das beantwortet dieser, indem er das Geschenk hoch und heilig verehrt, es Tag und Nacht bei sich trägt.

An anderer Stelle wird gezeigt, wie er sich um seinen Sohn sorgt: „Denn Michels Papa hatte wahrlich auch Angst um seinen Jungen“. Er lässt sich aber auch darauf ein, von seinem Sohn, der mit fünf Jahren schon sehr gut diskutieren kann, überzeugt zu werden. Er gibt hin und wieder nach, obwohl er sonst seine Regeln und Prinzipien hat.

Wie sehr ihn seine Eltern lieben und ihm das auch zeigen, verdeutlicht eine Szene, in der Michel den ganzen Tag von allen gesucht wurde – und dann am Abend im Vorratsschrank vollgegessen gefunden wird: „Und seine Mama war so glücklich, als hätte sie einen großen Klumpen Gold im Schrank gefunden. Was machte das, dass Michel alle Würste in sich hineingestopft hatte! Es war doch wohl tausendmal besser, Michel dort im Regal zu finden als einige Kilo Wurst. Und das fand Michels Papa auch.“

Wie Michel eine Heldentat vollbringt und alle meinen, sie hätten es immer schon gewusst, dass Michel auch gute Sachen macht

Zum Schluss, nachdem wir uns die Eltern und ihre Beziehung zu Michel genauer angeschaut haben, verstehen wir besser, wie dieser kleine Junge es schafft, seinen Freund, den Knecht Alfred, vor dem sicheren Tod zu bewahren.

Alfred ist Michels großer Freund und neben den Eltern seine wichtigste Bezugsperson. Er hat Interesse an den Dingen, die Michel beschäftigen: er schnitzt ihm sein Lieblingsspielzeug, ein Holzgewehr. Sie gehen zusammen Angeln, baden im See und spät in der Nacht fangen sie Krebse. Er zeigt und erklärt ihm alles über Pferde, so dass Michel später über diese Spezies besser Bescheid weiß, als Alfred selbst: „Er mochte Kinder… und es kümmerte ihn nicht, dass Michel ein Wildfang war und Unfug machte“. Er nimmt sich immer wieder Zeit für Michel und achtet seine kindlichen Bedürfnisse. Solche Bezugspersonen neben den Eltern, die diese Achtsamkeit und Hinwendung für Kinder aufbringen, wünsche ich jedem Kind. Als nun Alfred in Gefahr ist und die Erwachsenen keinen Rettungsversuch wagen, folgt Michel wieder seiner inneren Stimme. Obwohl es aussichtslos erscheint, Alfred durch einen Schneesturm mit dem Pferdeschlitten zum Arzt zu fahren, macht sich Michel früh morgens alleine mit ihm auf den Weg und schafft das Unmögliche. Alfred kann operiert werden und überlebt.

Diese Heldentat kann Michel nur vollbringen, weil er ein großes Selbstwertgefühl aufgebaut hat und ihm sein kleines Rückgrat nicht gebeugt wurde. Jetzt atmen alle auf. Der Vater lobt seinen Sohn: „Du bist ein guter Junge, (…) und Michel wurde so glücklich, dass ihm das Herz im Leibe hüpfte“. Die Mutter schreibt in ihr Heft: „Mein Gott, wie das mein armes Mutterherz getröstet hat, das so oft an Michel verzweifelte.“ Auch in Lönneberga will man es schon immer gewusst haben und die Leute sagen: „Ich kann nicht verstehen, wieso sich einige Menschen immer so über ihn beklagt haben! Ein bisschen Unfug machen doch alle Jungen!“

Ich glaube sowieso, wenn die jungen Menschen auf alles hören würden, was die älteren ihnen sagen, würde jede Entwicklung aufhören und die Welt stillstehen.

Astrid Lindgren

Benedikt Hommel ist Sozialpädagoge, Suchttherapeut (integrative Therapie), Dialogprozessbegleiter und Vater von drei erwachsenen Kindern.

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